Liebe Leser!
Mit heutiger Ausgabe führen wir unseren Themenschwerpunkt „History“ ein und erzählen über unsere Fundstücke, z.B. über das Rittertum. Dabei legen wir unser Augenmerk auf die öffentliche Berichterstattung damaliger Zeitungen, Illustrierten und der Tagespresse. Entdeckte Geschichten sind nicht chronologisch geordnet, sondern anhand ihres Gehalts gewählt und aus unserer Sicht lesenswert. In dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit einem Artikel, den wir in der Tageszeitung „Montagsblatt aus Böhmen“ vom 15. August 1910 gefunden haben.
An Prag vorbei
Jedes Jahr um diese Zeit, da der Sommer seinen Höhepunkt erreicht, da jeder, der nur ein bißchen sichs erlauben kann, auf Reisen geht, in diesen Tagen des allgemeinen Wanderfiebers und der Fremdenjagd werden die guten Prager wieder gewahr, daß abermals niemand hiehergekommen ist. Die wenigen Hotels der Stadt stehen halb leer, die Portiere fangen Fliegen oder unterhalten sich, indem sie mit dem nächsten Dienstmann Grad-Ungrad spielen, die Fiaker gähnen und zählen die Rippen ihrer Gäule, die Fremdenführer aber haben längst das Seufzen und den Beruf aufgegeben; sie sind zu weniger platonischen Beschäftigungen zurückgekehrt und handeln mit alten Kleidern.
Nein, im Ernst, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Früher verirrte sich doch hie und da einmal ein deutscher Historiker, der in Gurlitts Beschreibung unserer Stadt von den alten Reichtümern las, hieher oder ein Karlsbader Kurgast, den die Nähe der mysteriösen böhmischen Hauptstadt lockte. Jetzt aber scheint das dünne Fremdenbächlein ganz versickert zu sein. Der große Strom von Reisenden, der alljährlich von Norden und Westen in die böhmischen Kurorte sich ergießt, in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad das schöne Geld absetzt, dieser reiche und bunte Strom des internationalen Lebens geht an Prag vorbei. Prag gilt nichts mehr, kein Mensch findet es der Mühe wert, hier auch nur einen Tag zu verbringen, niemand will von der alten, schönen Stadt etwas wissen.
Diese Tatsache ist sehr bedauernswert, nicht nur wegen des großen materiellen Verlusts, den die Stadt erleidet, sondern auch der sehenswerten Schätze dieses alten Bodens wegen, die durch diese Nichtbeachtung sozusagen aus dem Bewußtsein der internationalen Kulturgemeinschaft verschwinden und infolgedessen auch zu Hause an Wert verlieren. Um Schätze, die erhaltenswert sind, zu erhalten, muß man kontinuierlich auf sie aufmerksam gemacht werden: Bewunderung und Lob aus fremden Munde erhöhen die heimatliche Sorgfalt, schärfen das Gewissen und wirken im höchsten Maße erzieherisch. Wie sehr würden wir solches Lob brauchen, wie notwendig wäre es in Prag, von außen aufmerksam gemacht zu werden, welche Perlen hier begraben liegen! Am Ende würden dann die verantwortlichen Leiter der Stadtschicksale doch etwas rigoser werden gegenüber den ihnen anvertrauten Schätzen. Aber auch sonst müßte ein internationaler Fremdenverkehr der Stadl sehr zu statten kommen, indem er den geistigen Horizont dieser Stadt erweitern, ihr Tempo erhöhen, ihr Interesse vergrößern würde.
Wenn man nach den Ursachen fragt, die Prag zu einer der gemiedensten Großstädte des Kontinents gemacht haben, so erhält man von tschechischer Seite stets die Antwort, die Stadt sei von den bösen deutschen Journalisten im Auslande derart verschwärzt worden, daß kein Mensch mehr herkommen will. Es ist die billigste Ausrede, die sich in diesem Falle finden läßt, eine Ausrede, die jeder Selbstkritik ausweicht, der gekränkten Eitelkeit ein Pflästerchen gibt und überdies zu nichts verpflichtet. Die Ausrede ist vor allem aber kindisch, weil sie auf der Annahme beruht, daß es heute im Zeitalter des Telegraphen und des Telephons, möglich sei, eine Unwahrheit auch nur einen Tag lang aufrecht zu erhalten. Lügen haben erst recht in der Welt der Journale kurze Beine, und wenn die deutsche Presse Prags hundertmal teuflischer auf den schlechten Ruf der Stadt bedacht wäre, als ihr dies in der Phantasie ihrer Feinde zugeschrieben wird, vermöchte sie nicht einen Monat ein unwahres Bild von Prag aufrechtzuerhalten, denn bei der peinlichen Kontrolle, der jede Nachricht heute unterliegt, folgt die Korrektur der Unwahrheit wie der Schatten dem Körper im Sonnenlicht. Das Lamento über die „Anschwärzung“ Prags ist eine allzubequeme Ausrede, die die Tatsache umschreibt, daß die politischen Ereignisse innerhalb dieser Mauern auf den Besuch Prags nicht gerade fördernd gewirkt haben. Wäre sonst alles in Ordnung, dann könnte man über dieses Thema ruhig hinweg gehen und auf die Dinge zu sprechen kommen, die Prag haben müßte, um eine wirklich aufsuchenswerte und angenehme Stadt zu sein. Aber es ist das tragische Schicksal dieser Stadt, daß das Fremdenproblem enge mit der politischen Frage zusammenhängt.
Neulich hat ein kundiger Thebaner in der „Nár. Listy“ darüber gesprochen, was geschehen müßte, um Prag Fremde zuzuführen, und es war manches darunter, was sicherlich Beachtung verdiente. Daß die Straßen skandalös gepflastert und vielfach ausgerissen sind, daß die Droschken und Fiaker willkürliche Taxen berechnen, daß die Kanalisation noch immer nicht vollendet ist, sind gewiß sehr beklagenswerte Erscheinungen, aber mit der Erkenntnis solcher Details ist nicht viel getan. Viel eher fiele, sofern man sich an diese Dinge hält, schon das Trinkwasser ins Gewicht; es ist nicht zu leugnen, daß der Prager Trinkwasserskandal jährlich zehntausend Gäste der Kurorte abhält, nach Prag zu kommen. Kulturmenschen, die auf die Gesundheit und aus Reinlichkeit strenge bedacht sind, meiden selbstverständlich eine Stadt ohne Wasserleitung. Trinkwasserleitung, Verbesserung des Stadtverkehrs und der Straßen, Einführung des Taxameterfuhrwerks, das alles wären wohl selbstverständliche Voraussetzungen für die Hebung des Fremdenzulaufs. Aber wir fürchten, daß auch damit Prag als Fremdenstadt nicht zu machen wäre. Das Problem hat einen tiefern, und wenn man will, tragischeren Kern.
Wir sagen „tragischer“, weil man hier zur Einsicht kommen müßte, daß Prag mit seiner geographischen Lage und den Objekten, die es zu einer Sehenswürdigkeit machen, eine Fremdziffer nur dann erreichen kann, wenn es mit den reichsdeutschen Reisenden rechnen würde. Es ist nicht anders: wo immer man nachprüft, ob man die Fremdenziffern der Schweiz, die Besuchsstatistik der Alpenländer, oder die Frequenz Italiens studiert, stets wird man finden, daß der reichsdeutsche Turist den Ausschlag gibt. Amerika schickt sehr reiche Leute herüber, auch der Strom aus England ist vor allem gewichtig, aber die Masse stellt Deutschland. In Deutschland reist nicht nur der wohlhabende Mann, dort reist alles. Der Franzose ist kein Tourist, auch der Russe stellt ein verschwindendes Kontingent; die hohen Ziffern machen nur Deutschlands Reisende. Das ist für die Prager vielleicht keine erbauliche, aber es ist eine unumstößliche Tatsache. Der Deutsche ist auch einzig der Mann, der mit seinem entwickelten historischen Sinn, Stätten von der Bedeutung Prags zu schätzen weiß. Amerika und England fliegen wenn man so sagen darf auf Kuriositäten, wenn sie sich nicht von Glanz und moderner Technik gefangen nehmen lassen. Amerika bewundert die mustergiltige Ordnung der großen deutschen Städte, die Sauberkeit und technische Vollkommenheit ihrer Straßen und ihres Verkehrs und will nirgends die Bequemlichkeit der großen Hotels missen. Diese Glanzseiten moderner Großstädte kann Prag nicht bieten, und es wäre unbillig es von ihm zu fordern. Was Prag sehenswert macht, sind nicht die Schöpfungen von heute, von denen viele nur zeigen, wie es nicht gemacht werden soll, sondern nur die Denkmäler von gestern. Am neuen Prag ist nicht viel zu bewundern, desto mehr am alten. Alte Stadtkunst, Geschichte, historischen Kram, Patina und ehrwürdige Rumpelkammern weiß aber nur der Deutsche zu schätzen und er schätzt dies was bei Prag der Fall ist selbst dann, wenn er dabei auf Komfort und die Errungenschaften der Neuzeit verzichten muß.
Will man die Prager Fremdenziffer heben, dann müßte man also vor allem den reichsdeutschen Touristen für die Stadt, deren Geschichte jedem gebildeten Deutschen geläufig ist, wieder zu interessieren suchen. Dazu bedürfte es des guten Willens, an dessen Vorhandensein wir allerdings zu zweifeln uns erlauben. Man braucht sich diesbezüglich nur des Vorfalles zu erinnern, der sich gelegentlich des Schlaraffia-Jubiläums abspielte, um zu solchem Zweifel berechtigt zu sein. Bei Verzicht auf den deutschen Reisenden aber wird es niemals gelingen, Prags Fremdenziffer sonderlich zu heben. Aus politischen Motiven reist kein Mensch, am allerwenigsten der Franzose, und den Engländern und Amerikanern, die nach Karlsbad kommen, liegt das funkelnde Dresden näher als Prag.
Daß dem so ist, mag für die verantwortlichen Leiter der Stadt unangenehm sein, aber ändern können sie diese Sachlage nicht. Prag könnte eine Fremdenstadt nur werden, wenn der Geist dieser Stadt sich ändern und zu erkennen geben würde, daß man auch national sein kann, ohne auf den Anschluß an die große Kultur zu verzichten.
In unsere nächsten Ausgabe erzählen wir Ihnen, warum gerade dieser Artikel sich auf das Beispiel der Schlaraffia bezieht. Sie dürfen gespannt sein, Fortsetzung folgt.
Titelfoto: Straße in Prag (pixabay.com)