Bezugnehmend auf unsere letzte Entdeckung im Österreichischen Nationalarchiv mit der Geschichte „An Prag vorbei“ kommt heute die Fortsetzung. Eigentlich ereignete sich das Nachfolgende ein Jahr zuvor. Interessant an unserem Beitrag aber ist, man erkennt, wie sich Lokalpolitik auf das Wohlergehen einer Stadt auswirken kann. Denn die im Beitrag beispielhaft erwähnte Schlaraffia entschied sich für die Verlegung ihrer Gründungs- und Jubelfeier.
Der heitere Prager Stadtrat
Erschienen im Mährischen Tagblatt am Dienstag, den 17. August 1909
In unserer ernsten Zeit sorgen die Prager Stadtväter für ungemessene Heiterkeit. Bald ist es die unglückselige Rohren-Affäre, in der die Stadtväter eine fatale Rolle spielen, bald ist es das verschandelte Repräsentationshaus und die Millionen, die es kostet, bald wieder verschwundene Eiskuhren, welche die Heiterkeit der Mitwelt herausfordern. Das Heiterste aber gestattete sich der Prager Stadtrat in der letzten Woche. Da sandte er im Einvernehmen mit dem tschechischen Nationalrat und den tschechischen Abgeordnetenklubs folgendes Telegramm an die beiden tschechischen Minister Dr. Bras und Dr. Zaczek:
„Unter dem Eindrucke der Nachrichten über die Verfolgung der Angehörigen der tschechischen Nation in Wien, wo doch als in der Reichshauptstadt alle Völker des Reiches gleichberechtigt sein sollen, erwartet der Rat der königlichen Hauptstadt Prag, daß von Seiten der Regierung so bald als möglich und mit größter Energie Verfügungen getroffen werden, durch welche die Tschechen in der Reichshauptstadt und ihre gesetzesmäßigen Korporationen bei der Ausübung ihrer gesetzlich verbürgten Rechte in hinreichendstem Maße geschützt werden.“
Der Prager Stadtrat ruft nach der Polizei, er regt sich auf und klagt über Verletzung der Gleichberechtigung. Der Prager Stadtrat als Wächter der Gleichberechtigung! Ein kostbarer Scherz, der im Bilde verewigt werden sollte. Das müßte ein wunderbares Bild sein, auf dem die Herren Dr. Podlipny und Breznovsky, etwa mit dem hussitischen Morgenstern bewaffnet, für die Gleichberechtigung eintreten. Die Prager „Bohemia“ bemerkt dazu mit vollem Rechte, das sei der selbe Stadtrat. der in den bewegten Herbst und Wintertagen des Vorjahres mit hämischer Bosheit die rohen Gewalttaten gegenüber deutschen Kouleurstudenten guthieß, staatliche Hilfe gegen die „Provokationen“ der deutschen Studenten anrief und mit lächerlicher Kleinlichkeit den Graben aufreißen ließ, um den deutschen Mitbürgern, den autochthonen deutschen Mitbürgern ihren Spaziergang zu verleiden. Es ist nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn ein deutscher Verein es wagen wollte, in geschlossenem Zuge sich durch die Straßen Prags zu bewegen oder einen touristischen Ausflug in eine Gegend des tschechischen Sprachgebiets zu unternehmen. Die Prager „Schlaraffia“ mußte heuer ihre Gründungs-Jubelfeier nach Wien verlegen, weil schon der bloße Umstand, daß sie das Ausstellungsgebäude im Baumgarten als Festhalle gemietet hatte, einen sogenannten Sturm der Entrüstung in der tschechischen Presse erweckte. Die berüchtigte Schlacht von Kuchelbad und die allerjüngsten tschechischen Überfälle auf deutsche Spaziergänger, Gymnasiasten, selbst Frauen, bilden einen eigenartigen Hintergrund zur Depesche des Prager Stadtrates. Die Tschechen in Böhmen mögen zunächst einmal vor der eigenen Türe kehren. Erst wenn die Deutschen dort sich rühmen dürfen, in ihrem Heimatlande vom tschechischen Nachbar ebenso anständig behandelt zu werden, wie die tschechischen Einwanderer von den Deutschen Niederösterreichs - erst dann darf ein tschechischer Stadtrat, ganz zuletzt aber der Prager Stadtrat, es wagen, Zensur an nationaler Gastfreundschaft zu üben. Und die Stadt Wien? Wird sie den Prager Protest ruhig hinnehmen? Sie hätte jetzt die Pflicht laut und vernehmlich ihre Stimme zu erheben. Herr Dr. Lueger wird reden, wird Farbe bekennen müssen.
Weitere Geschichten aus und um Prag werden folgen. Lassen Sie sich überraschen.
Titelfoto: Prager Pinguine (pixabay.com) - Quelle: Österreichisches Nationalarchiv